Archiv des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland

Person/Körperschaft

Identifier/Permalink:
Entity 15773
Tätigkeit/Titel/Branche:
Jüdische Arbeiterpartei (1874 bis 1921)

:
Identifikation Person/Körperschaft: ja
NS-verfolgt: ja
Eigentümer: nein
Notiz: Das Archiv des Bundes, genauer das Archiv des Allgemeinen Jüdischen Arbeitsbundes in Litauen, Polen und Russland (Bund) (jiddisch: אַלגעמײנער ייִדישער אַרבעטער־בונד אין ליטע, פּױלן און רוסלאַנד, russisch "Всеобщий еврейский рабочий союз в Литве, Польше и России)", allgemein genannt Der Bund (בונד, Бунд), das von 1897 bis 1935 existierte.
Der Allgemeine Jüdische Arbeitsbund in Litauen, Polen und Russland (Bund) war eine jüdische politische Arbeiterpartei mit sozialdemokratischer Ausrichtung, die auch die Ideen der jüdischen national-kulturellen Autonomie unterstützte. Der Bund war anfangs eine revolutionäre Untergrund-organisation, die am 7. Oktober 1897 in Wilna (Vilnius in Litauen) gegründet wurde, für den Sturz des Zarismus im Russischen Reich kämpfte und sich für die Sache des jüdischen Proletariats einsetzte. Der politische Kampf entwickelte sich bis ins letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf den herrschenden Rassismus einerseits und den stetig wachsenden Zionismus andererseits. Sie forderten eine national-kulturelle Autonomie für die Juden und die Anerkennung des Jiddischen als Landessprache und sahen sich sowohl als eine eigenständige nationale als auch eine religiöse Gruppe.

Diese Forderung wurde von der Überzeugung getragen, dass die Juden ihr Heil nicht in ihrer historischen Heimat Palästina finden würden, sondern in Osteuropa, in den Ländern, in denen sie schon lange Wurzeln geschlagen hatten. Anders als die Poalei Zion Bewegung lehnte der Bund die Ideologie des Zionismus ab. Im Mittelpunkt der Bewegung stand der Kampf für die nationalen Rechte der Juden an den Orten, an denen sie lebten. Das Heimatland der Juden ist der Ort, an dem sie leben und an dem sie für ihre sozialen und nationalen Interessen kämpfen sollten. Im Revolutionsjahr 1905 führten die Organisationen des Bundes die Beteiligung jüdischer Arbeiter an Straßenkämpfen und Barrikaden an und bildeten bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen zur Bekämpfung antisemitischer Pogrome in Odessa, Zhitomir und anderen Orten. Bald nach der Revolution wurden die Aktivitäten des Bundes legalisiert, so dass diese Partei erstmals aus dem Untergrund hervortreten konnte. Die Zahl der Bundesmitglieder in Russland wuchs stetig. Im Jahr 1917, zur Zeit der Oktoberrevolution, hatte der Bund etwa 40.000 Mitglieder in 400 Städten. Die Konzentration der uneingeschränkten Macht in den Händen der Bolschewiki war jedoch die Vorbedingung für den Untergang des Bundes in Russland. Einige ihrer Mitglieder schlossen sich der RKP an, andere der Jüdische Sozialistisch-Demokratische Arbeiterpartei Poale Zion. (1923 in Jüdische Kommunistische Partei umbenannt). Im Jahr 1921 löste die sowjetische Regierung den Bund auf, woraufhin viele seiner Mitglieder nach Westeuropa emigrierten. Damit endete die russische Periode in der Geschichte des Bundes.
Nachdem der Bund in Russland aufgelöst worden war, lag sein Tätigkeitsschwerpunkt in Polen, wo er von 1919 bis zur Auflösung 1948 eine unabhängige politische Partei blieb. Die Ideen des Bundes trugen zur Bildung sozialistischer Parteien in Israel bei und autonomer Bund-Organisationen in Rumänien, Litauen, Lettland und Estland. Auch in anderen Ländern, darunter Israel, England, Frankreich, Argentinien und den USA, blieben bündische Gruppen aktiv. In den Nachkriegsjahren etablierte sich der Bund als ein loser Zusammenschluss nationaler bündischer Organisationen in mehreren Ländern mit Sitz in den Vereinigten Staaten. Im Mai 1947 wurde auf einer Konferenz in Brüssel die Nachfolgeorganisation „Internationaler Jüdischer Arbeiterbund“ (International Jewish Labor Bund, IJLB) gegründet, die sich jedoch Mitte der 2000 Jahre auflöste.
Zur Geschichte:
Das Archiv und die Bibliothek des Bundes wurden von Franz Kursky (eigentlich Samuel Kahan), einem Vertreter des Bundes im Präsidium der Zweiten Sozialistischen Internationale 1919 von Genf nach Vilnius (Wilna) gebracht und später während des polnisch-russischen Krieges 1920 von Vilnius nach Berlin, wo es bis 1933 verblieb.
In dieser Zeit floh Franz Kursky mit der Sammlung im Gepäck aus Berlin nach Paris. Dort verkaufte er die Bund-Sammlung (durch einen Kontakt der Archivarin vom IISH, die gerade in Paris weilte) notgedrungen an die Gründer des IISH, Nehemia de Lieme und Nicolaas Posthumusim im November 1934, die zur allerersten Sammlung der Gründungsväter des IISH wird. Der Vertrag wurde am 14. November 1934 unterzeichnet (siehe Archiv Centrale, Inv. Nr. 1582) und Posthumus überreichte Kursky einen Scheck mit einer Anzahlung i. H. von 10.000 französischen Francs[1] noch in Paris. Zum Leidwesen der Käufer lieferte Kursky aber nicht alle rund 20.000 Objekte wie vertraglich vereinbart, so dass die Sammlung unvollständig und verspätet erst 1936 in Amsterdam ankam. Sie wurde erstmals im Jahresbericht von 1938 erwähnt (vgl. S. 57), aber erst um 1940 als offizielle Sammlung eingetragen. Der Verkauf der Bund-Sammlung wurde nicht weiter publik gemacht, so dass er sich weder in der Geschichte des Bundes noch in der Biographie Kurskys wiederfindet. Da das Bund-Archiv 1940 als Sammlung aber noch nicht beschrieben war, lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob und welche Teile davon im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sind.
Unmittelbar vor dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in die Niederlande im Mai 1940 konnten noch viele Materialien des Institutes in Sicherheit gebracht werden, doch die umfangreiche Bibliothek von rund 300.000 Exemplaren musste leider zurückgelassen werden. Sie wurde vom Einsatzstab Alfred Rosenberg zusammen mit der Bund-Sammlung zuerst im Juli 1940, dann im September 1944 nach der Beschlagnahme und Besetzung des Institutes nach Deutschland und in den Osten verschifft. Nach dem Kursy 1941 ein weiteres Mal fliehen musste, wurde auch der verbliebene Teil der Sammlung von den Deutschen beschlagnahmt. Nach dem Krieg wurde die Bund-Sammlung weltweit verstreut. Heute befindet sich der größte Teil in der Bibliothek des Jewish Scientific Institute YIVO, im Tamiment Institute in New York der Jewish Department of the New York Public Library, in der British Library in London, in der Medem Library in Paris und in der Nationalbibliothek von Litauen in Vilnius.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde der größte Teil der Sammlung in der Nähe von Hannover (Britische Militärzone) wiedergefunden und nach Amsterdam zurückgebracht. Das komplette Archiv wurde im Rahmen des Centrale-Projekts 2012-2016 digitalisiert. Die Sammlung wird beim IISH unter dem Namen Yidishkayt geführt.

Text von Elena Brasiler (Universitätsbibliothek, FU Berlin), Stand: 5. Dezember 2024

[1] 1934 entsprachen 10.000 FF ca. 330.600 Reichsmark. Das würde 2015 einer Kaufkraft von ca. 55.100 Euro entsprechen (1 Reichsmark (1924–1936) = (2015) 6,65 Euro)
Quellen:
https://archief.socialhistory.org/en/collections/yiddish-collection-brief-history, abgerufen am 25.11.2024

https://www.wikiwand.com/de/articles/Allgemeiner_Jüdischer_Arbeiterbund, abgerufen am 25.11.2024

https://search.iisg.amsterdam/Record/ARCH00195/ArchiveContentAndStructure, abgerufen am 29.11.2024

Jewish Places: Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund (Bund), abgerufen am 29.11.2024

http://www.yivoarchives.org/index.php?p=collections/controlcard&id=33762, abgerufen am 29.11.2024
Frank Wolff: Historiography on the GEneral Jewish Labor Bund. Traditions, Tendencies and Expectations, abgerufen am 04.12.2024 unter: 
https://docs.google.com/viewer?url=https://www.medaon.de/pdf/M_Wolff-4-2009.pdf&fname=M_Wolff-4-2009.pdf&pdf=true


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